Lieferschwierigkeiten

 

 

In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich das Arbeiten in der Apotheke mehrfach stark verändert. Man denke nur an die Einführung der Rabattverträge oder der Festbeträge. In den letzten Jahren betrifft diese Veränderung besonders die Verfügbarkeit unsere Ware.

Jetzt könnten Sie sagen: Verfügbarkeit? Wir sind eine führende Industrienation, die Planwirtschaft liegt fünfundzwanzig Jahre hinter uns, wir sind Exportweltmeister, wie kann da eine so wichtige Ware wie Arzneimittel nicht verfügbar sein?

Ich bin ganz bei Ihnen, aber der Alltag in der Apotheke lehrt uns jeden Tag: Auch lebenswichtige Arzneimittel, auch wenn sie in Deutschland hergestellt werden, sind laufend über Wochen nicht zu bekommen. Das betrifft Impfstoffe, Antibiotika, Arzneimittel gegen Asthma, Schilddrüsenmedikamente und viele andere mehr.

Täglich telefonieren wir mit dem Großhandel, dem Hersteller, nicht etwa um eine Bestellung abzugeben, sondern um zu erfahren, wann man günstigsterweise wieder mit Ware rechnen kann und wie man am geschicktesten vorgeht, diese Ware für unsere Kunden zu ergattern. Da werden Vorbestelllisten geführt, Dispositionen getätigt, spezielle Mitarbeiter angerufen, die irgendwo noch was organisieren können. Der Einkaufsleiter meines Großhandels, der sich immer meine Klagen über die Liefersituation anhören muss, schlug jetzt vor, ich solle die Ware, die erfahrungsgemäß knapp wird schon mal Anfang eines Monats ordern, da seien die Kontingente meist noch nicht ausgeschöpft.

Schöne Neue Welt? Wir schreiben das Jahr 2016 und die Thrombosespritzen sind kontingentiert. Wenn mir das jemand erzählt hätte als ich vor fünfundzwanzig Jahren diesen Beruf ergriff, hätte ich ihn ausgelacht.

Was soll dabei herauskommen, wenn ich zu einem strategisch günstigen Zeitpunkt Ware bestelle, die knapp ist, die ich aber noch gar nicht brauche? Ich verknappe durch meine Bestellung die Ware zusätzlich. So funktioniert die Börse, aber nicht der Gesundheitsmarkt.

Konsequenterweise sind wir dann auf dem Weg, Arzneimittel zu konsumieren wenn (bzw. weil) sie verfügbar sind , nicht wenn wir sie brauchen. Für die Situation bei den Impfstoffen hieße das: Typhusimpfstoff gibt es leider bis Mitte nächsten Jahres nicht, aber Tollwut ist nach langer Zeit gerade wieder verfügbar, wäre das nicht etwas für Sie?

Patienten, die wirklich auf Ihre Arzneimittel angewiesen sind und die Erfahrung einmal gemacht haben, wie schwierig es sein kann zu einem bestimmten Zeitpunkt an Ihr Medikament zu kommen, legen sich Notvorräte an. Und wir gewöhnen uns an Vorbestellungen, Dispositionen, Herstellertelefonate, Großhandelsdiskussionen, Abrechnungsschwierigkeiten und Diskussionen mit genervten Patienten.

Zwei Drittel unserer Zeit verbringen wir mit Telefonaten, die sich um Bestellungen, Rezeptänderungen, Liefertermine und den Zustelltermine irgendwelcher Warenpäckchen drehen. Alles nur um das zu machen, was Grundlage unseres Jobs ist: unsere Patienten mit den benötigten Arzneimitteln zu versorgen.

Wenn Sie Lust haben, können Sie gerne mal zuhören, wie das so läuft, in deutschen Apotheken. Ein Kunde kommt mit einem Rezept. Die Kollegin gibt die Daten ein, ermittelt den aktuellen Rabattvertrag, prüft die Lieferfähigkeit und stellt fest: alle Großhändler können den gewünschten Artikel nicht liefern. Sie ruft beim Großhändler an um einen Liefertermin zu erfragen, es gibt keine. Sie ruft beim Hersteller an um einen Liefertermin zu erfragen, kein Problem, wir sind lieferfähig. Sie fragt beim Patienten wann die Ware spätestens gebraucht wird, in fünf Tagen muss er spritzen. Ich rufe beim Hersteller an um die Ware zu bestellen. Der Hersteller fragt zurück: Sind Sie Kunde bei uns? "Ich bin eine Apotheke, reicht das ?" "Nein, Sie müssen einen Antrag stellen, die Bearbeitung dauert zwei Werktage und wenn Sie dann den Kundenstatus haben können Sie bestellen und das dauert dann wieder zwei Werktage bis die Ware an Sie rausgeht." "Aber der Kunde kann nicht so lange warten." "Dann wäre es besser, Sie disponieren die Ware über Ihren Großhandel bei uns, dafür erheben wir auch keine zusätzlichen Gebühren." Ich rufe also wieder den Großhandel an und sage mein Sprüchlein auf, dass ich Ware brauche und der Hersteller gesagt hat er kann liefern und dass ich die Ware disponieren möchte. Die Dame an der Aufnahme erklärt mir, dass seit dem 09.12. keine Ware mehr gekommen ist trotz Disposition weil die Ware ja vom Hersteller kontingentiert sei und dass aktuell noch neunzehn Apotheken auf Ihre Ware warten, die vor mir bestellt haben und sie fragt mich, wie groß ich die Chancen einschätze, dass meine Bestellung von heute kürzlich dazu führt, dass ich Ware bekomme. Ich teile ihre Bedenken, aber was soll ich machen?

Weil das der dritte Fall bei unterschiedlichen Medikamenten innerhalb der letzten halben Stunde ist, bin ich mal wieder genervt genug um ordentlich Krach zu schlagen. Ich rufe den Außendienst des Großhandels an der für mich zuständig ist und beschwere mich. Ich rufe den Vertrieb an und beschwere mich mit Nachdruck. Der Vertrieb verurteilt die Einkaufsleitung dazu, mich  zurückzurufen. Die Einkaufsleitung verspricht, sich um mein Problem zu kümmern, betont aber auch wieder einmal, dass das Problem alle Großhändler haben und dass das am Hersteller liegt. Mir egal, ich will meine Ware.

Vielleicht war es mein Charme, vielleicht ein Weihnachtswunder, jedenfalls ruft mich der Großhandel wenig später zurück und kündigt die Lieferung der begehrten Packung am Silvestermorgen gegen Mittag an. Aus welcher Ecke diese Packung ans Tageslicht geholt wurde bleibt ein Geheimnis, aber immerhin kann mein Patient seine Therapie fortsetzen. Für die beiden anderen schwierigen Fälle ergeben sich leider keine Wunder, aber immerhin nehmen die Hersteller dieser Medikamente von normalen Apotheken Bestellungen entgegen, die dann aber erst im neuen Jahr ausgeliefert werden. Gut wenn die Patienten so lange warten können. Schlecht, wenn nicht.

Nun gibt es auch bei uns Kunden, die besser wissen, wie man eine Apotheke führen sollte als ich und die dann kopfschüttelnd anmerken: Wissen Sie, das kommt weil Sie nie was da haben. Wenn Sie sich die Dinge die gebraucht werden auf Lager legen würden wäre das alles kein Problem! Wie ist das beim Lotto? Sechs Zahlen von neunundvierzig richtig ankreuzen und schon ist man Millionär? Da habe ich bei der Auswahl von einem Medikament aus vielen tausenden die auf dem Markt sind ja erstklassige Chancen.

Anmerkung: Diese Glosse habe ich 2016 geschrieben, als man Corona noch nicht kannte und die Lieferschwierigkeiten bei Masken und Desinfektionsmittel noch in der Zukunft lagen. Leider ist das Prinzip immer noch dasselbe, es betrifft nur heute noch viel mehr Arzneimittel als 2016. In den Coronajahren hat die Beschaffung benötigter, aber leider nicht verfügbarer Waren einen Großteil unserer knappen Zeit gefressen. Im Winter 2022/2023 waren wir dann endlich soweit, dass die Hustensäfte und die Nasensprays knapp wurden. Jetzt im Januar haben wir wieder Hustensaft, aber dafür werden unsere Vorräte an Antibiotika täglich weniger und Nasensprays kann ich immer noch nur winzige Mengen ordern wenn die Sterne gerade günstig stehen.

Und was tut die Politik? Leider viel zu wenig. Und wenn ich für einen meiner Kunden eine der knappen Packungen aus meinem Bestand herausgebe und bei der Belieferung des Rezeptes auch nur den kleinsten Formfehler begehe, bekomme ich nicht mal meine Kosten für das Arzneimittel erstattet und bezahle die Therapie für meine Patienten auch noch selbst. So läuft das nämlich bei uns in Deutschland im Jahr 2024.